Das Leben beginnt hinter dem Zaun

hand-in-hand

Ich hab ein kleines Kästchen unter meinem Bett. Dort liegt es den ganzen Tag. Mein Kopf schließt es ab und denkt nicht mehr daran. Aber abends, wenn ich mich schlafen lege, dann gibt der Kopf den Schlüssel an das Unterbewusstsein ab. Und das Unterbewusstsein ist ein Idiot. Das wartet genau den richtigen Moment ab: wenn es dunkel ist und mich nichts ablenkt, dann schließt es das Kästchen auf. Und das Kästchen ist voller Angst. Eigentlich ist Angst etwas so dummes, dass sie es gar nicht verdient hat, dass ich hier darüber schreibe. Aber das ist ja so oft so: wenn etwas schlecht oder gemein oder einfach nur zum aufregen ist, dann bekommt das viel mehr Aufmerksamkeit, als es eigentlich wert ist. Angst ist hinterlistig. Sie kündigt sich gar nicht an, sondern erwürgt einen hinterrücks. Ich habe vor vielen Dingen Angst: dass der Krebs wiederkommt; dass ich es nicht merke, wenn der Krebs wieder kommt; dass meine Ärzte mich im Stich lassen; dass der Krebs irgendwann so überhand gewinnt, dass ich nicht mehr gesund werde. Das lässt sich einfach zusammenfassen: ich habe Angst vor Krebs. 22 Jahre lang hatte ich erstaunlich wenig Angst vor Krebs. Komisch, oder? Bei meiner ersten OP war die Frau bei mir im Zimmer eine typische Krebshypochonder: Alles, was sie hatte war sofort Krebs und alles macht Krebs und Krebs Krebs Krebs…. und NEIN, sie hatte den Krebs nicht, sondern ich. Ich hab mich nie mit Krebs beschäftigt, woher er kommt, was er ist, weil er mir einfach voll egal war. Ich war dem Krebs leider weniger egal, aber die Geschichte kennt ihr ja.

Jetzt, nach der Diagnose, habe ich Angst vor Krebs. Angst vor etwas unbekanntem zu haben ist eigentlich unlogisch. Ich weiß genau, wie behindert eine Chemo ist, wie Krebs wehtun kann und was Krebs so macht. Und nein, das war nicht soooo toll, dass ich das noch mal machen möchte. Das ist es aber nicht allein. Ich bin nicht blind und ich sehe, wie alle um mich herum leiden. Keiner sagt es und wenn, dann nur ganz gedämpft. Ich mache euch Sorgen. Ich bin dafür verantwortlich, dass es euch nicht gut geht. Und wenn der Krebs wieder kommt und ich es vielleicht irgendwann nicht mehr schaffe, dann versau ich euch alles. Für mich selber geht vieles irgendwie klar. Aber es zerquetscht mir das Herz, wenn ich daran denke, wie viel Schmerz und Kummer ich euch bereite. Dafür hasse ich meinen Körper manchmal ganz ganz arg. Natürlich bin ich nicht mit Absicht so krank geworden, aber keiner kann leugnen, dass es euch nicht besser gehen würde, wenn ich gesund wäre. Und was, wenn die Zukunft den Worst-Case bringt?

Zukunftsangst…. das hab ich ganz arg. In meinem Kopf ist ein Rezidiv wahrscheinlicher, als mit 80 auf der Parkbank zu sitzen. Ich will niemanden runterziehen, aber so ist es. Deshalb könnte ich total losschreien, wenn mal wieder jemand, der jeden Tag gesund aufsteht und gesund ins Bett geht und einfach das ganze Leben lang nicht kränker war als eine Darmgrippe (was ich um Himmels willen JEDEM gönne!!!) zu mir sagt „Du musst einfach immer Positiv bleiben“. Ich MUSS positiv bleiben? Leute, ihr habt keine Ahnung, was ich muss. Ich musste 9 Monate lang kämpfen wie eine gestörte, um zu überleben. Ich musste den Tag überstehen, an dem man mir gesagt hat, dass ich einen Tennisball- und einen Golfballgroßen Tumor in mir trage. Ich musste 9 mal zur Chemo. Ich musste 2 mal zur OP. Ich musste meine Brust abschneiden lassen. Ich musste um jeden Tag Zukunft kämpfen. Und dann willst du mir erzählen, dass ich positiv sein muss? Tut mir leid, aber um das zu 100% zu sein, müsste ich ganz ganz starke Glücklichpillen nehmen. Wenn ich jetzt wie ein blökendes Schaf in mitten der „Positiv bleiben“-Herde stehe, dann hab ich überhaupt gar nichts gelernt aus dem Scheiß. Denn wer immer nur positiv denkt, der vergisst die wichtigste Lektion, die einen der Mist beibringt: das Leben ist einmalig, das Leben ist kurz und das Leben ist nicht nur Blumenwiese, sondern kann auch ganz schnell ganz schön dumm werden. Und wer das nicht vergisst, der kann das „Jetzt“ besser nutzen. Obwohl ich Schafe total unglaublich super finde und am liebsten eines hätte, will ich nicht Teil der Herde sein. Ich will mehr. Ich will über den Zaun meiner Wiese raus und das volle Leben leben. Denn eins ist klar: ob mich der Bauer von der Wiese holt und Braten aus mir macht, oder ob ich außerhalb meiner Weide eines Tages vom Bus überrollt werde: sterben tu ich sowieso. Klar weiß jeder, dass er irgendwann stirbt. Aber irgendwann kann gedanklich verdammt weit weg sein. Ich weiß, dass ich jederzeit sterben kann. Und das ist eine verdammt gute Entscheidungshilfe geworden!

Ich glaube, die Zukunft kommt mir gerade so krebsig vor, weil der Krebs noch so real ist. Mit der Zeit wird es vielleicht besser. Wenn Gras über die Sache wächst. Ich will nicht, dass der Krebs wieder kommt. Ich will gesund sein. Ich will alt werden. Aber ich habe Angst, dass es nicht passiert. Ich habe Angst, dass ich eines Tages wieder da sitze und es heißt „Sie haben Krebs.“ Wie abgestumpft müsste ich nach allem, was war sein, dass ich diese Angst nicht hätte?

Es erscheint mir unwirklich, auch wenn ich es mir immer wieder sage. Vielleicht gibt es ja wirklich ein langes und gesundes Leben für mich. Und am Ende bringt mich die Angst immer wieder zu einem sehr sehr tröstenden Gedanken: Was, wenn man Ende einfach alles gut wird?

8 Gedanken zu “Das Leben beginnt hinter dem Zaun

  1. Liebe Maxi, du sprichst mir aus der Seele: das mit der Angst kann ich zu 100% nachvollziehen und die Geschichte mit dem „du musst einfach positiv denken“ hast du hammer formuliert! Ich bin jetzt ein halbes Jahr dabei, habe noch zwei Chemos vor mir, eine OP und dann die Bestrahlung. Es ist kein Sommerspaziergang! Danke für deine tollen Worte ❤

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    • Liebe Mara. Danke für deinen Kommentar 🙂 Mensch, du wirst es schaffen! Ich wünsche dir für die letzten zwei Chemos alles alles Gute und die Kraft, die dafür nötig ist. Es wird vorbei gehen ❤

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  2. Liebe Maxi, eines musst Du vielleicht doch: Journalistin oder Schriftstellerin werden. Du hast eine so unglaubliche Art Dinge zu beSCHREIBEN und eine Situationskomik, die ihresgleichen sucht. Ich bin ein absoluter Fan Deiner Posts. Und ich wünsche Dir, daß Du in einem glücklichen Leben alt und grau wirst ;-). Toll, daß Du bist, wie Du bist ❤

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  3. Kätzchen, auch ich habe Angst dass der Krebs bei dir wieder kommen könnte. Doch habe ich auch ganz viel Hoffnung , dass einfach alles gut wird. Was wären wir für Menschen wenn wir unseren Gefühlen keinen Raum geben würden, dann wären wir nur leere Hüllen. Was du hinter dir hast hat uns alle für immer geprägt, wir haben gelernt unter Tränen zu lachen und wir haben es geschafft über alles zu reden, egal wie schmerzhaft es manchmal war. Ich möchte dir nur sagen, dass du dich wegen mir nicht schlecht fühlen musst . Für deine schwere Krankheit kannst du nichts, du hast es uns allen immer sehr leicht gemacht dir zu helfen und für dich da zu sein. Es erfüllt mich mit so viel Stolz was für eine außergewöhnliche Frau aus dir geworden ist.
    Ich bin sehr glücklich dass ich deine Mama sein darf.

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  4. liebe maxi,
    du hast jetzt eine hammertherapiezeit hinter dich gebracht bzw liegts in den letzten zügen der bestrahlung.
    ja, die therapien werden mit der länge immer belastender. aber dann…….
    deine neuen haare zeigen dir die zukunft. das neue leben. die „immer-positiv-nummer“ haben menschen erfunden, die
    nicht wissen was es heißt die krebsnummer zu haben. sich seinen ängsten zu stellen, sie wahrzunehmen und anzuschauen ist
    schmerzhaft, aber auch der schritt hinter den zaun. evtl mit einer professionellen psychologischen betreuung!? mir hat das sehr geholfen und hilft immernoch. mit jemanden über seine eigenen, größten ängste zu reden. mit jemandem mit dem man gut kann.
    das leben ist anders nach all dem. mit der zeit wird es auch wieder etwas anders. aber der krebs bleibt ein teil deines lebens. immer.
    so wie du schreibst, weiß ich, dass du deinen weg gehen wirst. hinter dem zaun…… die buslinie auf deiner strecke wurde eingestellt. *grins*
    ich wünsche dir, dass dein krebs jetzt für immer die klappe hält
    alles liebe
    babs

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  5. Tja, das ist schon so eine Sache mit der Angst. Sie ist da. Besonders stark nach der überstandenen Therapie. Sie wird auch an manchen Tagen wieder gehen. Und sie wird wiederkommen. Und gehen. Die Kunst es doch wohl am Ende, die Angst so zu nutzen, dass man das Beste aus jedem einzelnen Tag macht.

    Denn was für uns „Cancer Survivor“ sicherlich nicht wiederkommen wird, ist die Unbeschwertheit. Die Leichtigkeit im Leben. Nenne es auch die Illusion, dass unser Leben sicher ist. Dass uns nie ein schlimmes Schicksal treffen wird. Aber wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann wissen wir, dass wir das Leben nicht in der Hand haben, sondern nur leben können.

    Wahrscheinlichkeiten bleiben Wahrscheinlichkeiten und sind eben nicht die Realität des heutigen Tages. Du hast den Kampf überstanden, das ist ein Grund, dass du extrem stolz auf dich sein kannst. Und ich wünsche dir, liebe Maxi, dass du bald die Kraft wiederfindest, dich dein ganzes langes Leben dem Kampf gegen den Krebs und die Angst zu stellen. Ich bin mir sicher, es wird sich für dich lohnen.

    Und nun zu guter Letzt noch eines meiner Lieblingszitate für dich: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende.“

    Herzlichst, Red & Welly

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  6. Hat dies auf PortGeschichten rebloggt und kommentierte:
    Einfach eine wunderbare Wahrheit, liebe GlatziMaxi, Du sprichst mir aus der Seele, ich reblogge Dich, weil ich Deine Worte so schön finde, sie leuchten! Danke für dieses Leuchten!

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